#folge39 #PerSePerSie

Auf die Frage „Darf ich Ihnen das Du anbieten?“, antworten manche: „Ich nehme lieber einen Aperol Spritz.“ Nicht immer bewirkt das sich rasant verbreitende Duzen die erwünschte Nähe. Schon gar nicht bei potenziellen Kunden.

Buddy Müller reicht einem Kunden einen großen Stapel an Ideen auf dem Silbertablett.
Der Kunde erwartet das und kommentiert: Du? Sie? Mir egal. Hauptsache: ICH!
Dies ist der Bezug zur Folge 39, die sich um das gleichmachende Duzen dreht.

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Das Bergsteigen und das Agenturleben haben sehr viel gemeinsam. Alle gehen die Extrameile, alle sind aufeinander angewiesen, alle fühlen sich ständig über 1000 Meter, alle wollen noch höher hinaus – und alle sind schnell per Du.

Ich, Buddy Müller, Senior Project Supervisor der weltweit größten Content-Marketing-Agentur Deutschlands, übe mich schon ein Berufsleben lang in der pronominalen Anrede.

Die Höhe über Null ist meist weniger relevant, wohingegen im gesellschaftlichen oder lokalen Kontext, bei steilen oder flachen Hierarchien, durchaus die eine oder andere Falle verborgen liegen kann.

„Ich habe dich schon immer geduzt“, sagte Brad MacCloud vom Clan der MacClouds.

Von Anfang an. Mein treues, nur für mich hörbares MacBook Pro und ich, das war eine besondere Seilschaft.

Jung, Techie und per Du

Besonders, ebenfalls von Anfang an, war auch die Zusammenarbeit mit unserem jüngsten Kunden. Mitten im Pitch hatte er sich für uns entschieden, was selten genug vorkam, denn monatelanges Hinhalten gehört in der Regel zur Verhandlungstaktik.

Aber hier: Ruck-zuck, Auftrag erteilt: „Ihr macht das“, hatte die Chief Marketing Officerin bereits im Präsentationstermin beschlossen.

Da fühlte es sich schon anders an.

Nicht, weil der Kunde eine große IT-Beratungsfirma war.

Nicht, weil er rund eine Handvoll „Divisions“ hatte mit kryptischen Namen, dazu vier Dutzend namhafte Kunden und Projekte, wie es im Briefing geheißen hatte, „von AI bis BI, von ERP bis CRM, von KPI bis IoT“.

Nicht, weil er trotz Abkürzungs-Feuerwerk und Tech-Speak sichtbar gegen ein Image als Bit- und-Byte-Schubser kämpfte.

Oder gerade deswegen? Alle waren jung oder jung geblieben, zumindest wehrten sich alle so vehement wie offensichtlich gegen das Altern; alle waren nett, freundlich, ein bisschen laut und ein bisschen bunt. Hoodies statt Sakkos, Sneakers statt Brogues, T-Shirts statt Businessshirts, Latte-Variationen statt Automatenkaffee dominierten die vollverglasten Flure.

Eine Selbstverständlichkeit – das Du.

Die zweite Person Singular des Personalpronomens spielte die erste Geige.

Es wurde frisch drauf losgeduzt, von der ersten Sekunde an, horizontal wie vertikal, nach innen wie nach außen, ohne Unterschied zwischen den Beauftragenden und den Dienstleistenden. Was unbestritten eine Analogie zwischen dem IT-, dem Agentur- und dem Bergsteigerleben ist, eine Henne-Ei-Frage: War das Du zuerst da und dann die Vertrautheit aus der zwangsläufig engen Zusammenarbeit – oder umgekehrt?

„Wie du es drehst und wendest“, sagte Brad MacCloud, „man hat sich dabei ganz schnell verduzt.“

„Vertrautheit braucht eben Fingerspitzengefühl“, bestätigte ich.

Catchy, pushy, fluffy, edgy

Wovon ich ausreichend besaß. Ohne Zweifel.

Ohne Fingerspitzengefühl kommt man als Agenturmensch beim Kunden nicht weit, ohne Gefühl für dessen Wünsche und Hoffnungen, dessen Erwartungen und Ziele. Und, natürlich, für dessen Zielgruppen.

Dachte ich.

Der Job, der bei der IT-Beratung unserer harrte, war klar, eigentlich: Wir hatten eine neue Website aufzubauen, reduced to the max, catchy, nicht pushy, die Texte fluffy, aber edgy, Content Marketing vom Feinsten, fokussiert auf Call-to-actions, jeder Satz darauf angelegt, gut gesäumte Business-Kunden von der Seriosität des Angebots zu überzeugen und zu einem Beratungstermin zu verleiten.

So konzipierten und texteten und gestalteten wir die gesamte Website – per Sie.

Und präsentierten.

Nach endlosen Momenten der postpräsentalen Stille, meldete sich die Chief Marketing Officerin zu Wort, ganz perfekte Fleischwerdung ihres Unternehmens, bunter Hoodie, weiße Sneaker, dazu ein Chai Latte.

„Wir duzen uns“, sagte sie, „so wie wir unsere Kunden duzen.“

Obwohl ich Dienstleister bin, glaube ich an das Gute im Menschen. Und daran, dass man ihn überzeugen kann.

Also versuchte ich zu argumentieren, die Zielgruppe bestünde ja nicht aus Programmierern, nicht aus Operativen, nicht aus Umsetzern, nicht aus jenen, die die großen Strategien auszuführen hätten.

„Besser: auszubaden haben“, korrigierte mich Brad.

Ich ignorierte ihn und machte weiter.

Ganz genau hätten wir uns an die Vorgaben gehalten, fuhr ich fort mit meinem Plädoyer, die Zielgruppe der Website seien Geschäftsführer und IT-Chefs, Entscheider und Einkäufer. Meist Männer, die die Mitte des Lebens schon passiert hatten, in bestem Alter also, auf alle Fälle im Geschäftssinn, denn der Leichtsinn sei ihnen hier meist fremd und die Verantwortung für ihre gefühlt millionenschweren Projekte bewusst.

Die Zielgruppe – per se per Sie.

Zwei Irrtümer

Was ich an manchen Kundinnen und Kunden sehr schätze, ist ihre Höflichkeit, mich ausreden zu lassen. Auch wenn sie sich nicht überzeugen lassen wollen.

„Wir duzen uns“, beharrte die Chief Marketing Officerin nach meinem Stakkato an Standpunkten. „Wir duzen unsere Kunden.“

Sie war ebenfalls um Argumente nicht verlegen: Eben die Enge der Zusammenarbeit, die Nähe, der Zeitdruck, der nur durch abgestimmtes Agieren und großes gegenseitiges Vertrauen zu bewältigen sei. Überhaupt breite sich das Du mit höchster Geschwindigkeit in allen Branchen, Ebenen, Funktionen und Rollen aus, international sogar, das Englische und das Schwedische seien doch lange und hinlänglich bekannte Vorreiter.

„You may say you to me”, kalauerte Brad, etwas angestaubt.

Mein treues MacBook Pro, mit nahezu unbegrenztem Zugang zu gefälligen Serverinnen und vollgepackt mit dem Wissen der Welt, stieg in die Beweisführung für unseren Vorschlag ein.

Die geschätzte CMO irre erstens schon beim Englischen, erläuterte er mir, denn das „You“ habe einst, etwa ab dem 12. Jahrhundert, von dem im Inselkönigreich damals weitverbreiteten Französischen die gleiche Bedeutung wie das höfliche, französische „Vous“ erhalten, also entsprechend dem hochdeutschen „Sie“.

Subtile Satzkonstruktionen ließen im Englischen allerdings bis heute eindeutige Rückschlüsse zu, ob eine formelle oder weniger formelle Beziehung zum Angesprochenen bestehe. Formell, erklärte mein MacBook, sei etwa: „Es ist erstaunlich, wie Sie mit Ihren Fähigkeiten so weit kommen konnten.“

Wohingegen „Du bist ein Idiot“ deutlich engere Bande nahe legen würde.

Von Schweden und Schachtelsätzen

Die geschätzte CMO irre zweitens auch beim Schwedischen, referierte Brad weiter. Denn wer das Schwedische beherrschte, also in erster Linie die Schweden, hätte ursprünglich mit ganz anderen Sätzen, Ungetümen gar, zu kämpfen gehabt.

Etwa die Frage nach dem Wohlbefinden einer Kundin wäre nur als „Wie geht es der Dame heute?“ korrekt gewesen, während die Kundin ihrerseits eine höfliche und nicht minder korrekte Gegenfrage hätte starten müssen: „Danke, gut, wurde denn auch ein schöner Morgen verbracht?“

Der Abschied vom gestelzten Formulieren begann erst ab den späten 1960er Jahren. Regierung und Behörden propagierten die Einfachheit der Anrede und das Du.

Schweden hat das Schrauben an Sätzen gegen das Schrauben an Möbeln eingetauscht“, sagte Brad,

Was in mir grundsätzlich ein großes Verständnis für die Schweden und deren sprachliches wie handwerkliches Geschick auslöste.

Mir aber nicht bei der Website einer deutschen IT-Beratung weiterhalf.

Als guter Dienstleister aber wusste ich, wann meine Argumente sicher richtig sind, wann sie vielleicht richtig sind, und wann ich sie besser für mich behielt.

„So machen wir das.“, sagte ich zur CMO. „Wir duzen uns. Wir duzen eure Kunden.“

Legeres Labern lohnt nicht

Es gingen wenige Wochen ins Land, die durchgeduzte Website erwachte zum virtuellen Arbeitsleben, als ein anderer Kunde uns seine Ehre gab – und unerwartet die direkte Anrede im Mittelpunkt stand.

„Sie arbeiten doch für diese IT-Beratung?“, fragte mich der MarKom-Chef unseres treusten Kundens, des weltweit größten Herstellers von Horizontalspühlbohrmaschinen Deutschlands, der zu uns zu seinem Weekly gekommen war.

Mir war, als würde er das „Sie“ besonders dehnen und das „diese“ besonders betonen – beides untrügliche Anzeichen, dass er etwas positionieren wollte.

„Können Sie denen nicht sagen“, fragte der Markom-Chef weiter, „dass die mit der albernen Duzerei aufhören sollen?“

Er habe nur saloppes Sabbeln vorgefunden, auf der Website, die er und sein IT-Vorstand sich genauer angesehen hätten. Der Hersteller von Horizontalspühlbohrmaschinen stünde vor einem unternehmenshistorischen Schritt: Mit den Erkenntnissen aus den bisherigen Erfolgen im professionellen Tunnelbau solle nun der Heimwerkermarkt erobert werden.

Dafür bräuchten sie Software, Software und nochmal Software, von Artificial Intelligence und Business Intelligence über Customer Relationship Management hin zum Enterprise Ressource Planning, messbar mit Key Performance Indicators und unter Einbindung von Internet-of-things-Technologie.

„Das gesamte Programm, um gesammelte Daten in bare Münze umzuwandeln“, sagte er. „Sie verstehen?“

Natürlich. Ein Großteil der Datensammlung stammte ja aus jenem Newsroom, den wir für ihn geschaffen hatten.

„Wir wollen kein Billy-Regal im Selbstbausatz kaufen“, erklärte der MarKom-Chef. „Wir wollen eine knappe Million Euro investieren.“ Mit einem seriösen, verlässlichen, kompetenten IT-Team.

Aber so, mit diesem legeren Gelabere, so würde das erstmal nichts. Er und sein IT-Vorstand hätten nun andere Anbieter mit offensichtlich mehr Gefühl für die wahren Bedürfnisse der Kunden zur Ausschreibung eingeladen.

„Beim Duzen scheiden sich die Geister“, sagte Brad, „und die Kunden vom Dienstleister.“

Tja, dachte ich mir, das Bergsteigen und das Agenturleben haben wirklich viel gemeinsam: Wer sich dem Gelände nicht anpasst, kann ganz schnell ganz tief fallen.


Duzen? Siezen? Ihrzen? Oder Brudern? Diggern? Altern? Es gibt viele Anredemöglichkeiten, je nach Kontext mal mehr, mal weniger passend.

Buddy Müller hat sich entschieden, in seinen sozialen Kanälen konsequent zu duzen – zu finden auf Facebook, Instagram, Threads oder LinkedIn, sowie immer noch auf X fka Twitter, um diesen Kanal nicht widerstandslos den Rechten und Extremen zu überlassen.

Die wiederum haben keine Spur von Höflichkeit verdient.


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Veröffentlicht von Buddy Müller

Senior Project Supervisor bei der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands.

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