Auch Buddy Müller bleibt wegen Corona zu Hause. Und muss feststellen, was er im Home-Office am meisten vermisst.

Wir lebten New Work schon, als es noch „flexible Arbeitszeitmodelle“ hieß. Und wir hatten bereits Home-Office, als anderenorts noch seitenweise Anträge für „Telearbeit an Heimarbeitsplätzen“ ausgefüllt werden mussten.
Wir Agenturmenschen, die meisten jedenfalls, also ich auf alle Fälle; ich liebe das Agenturleben genau deswegen: wegen dieser Freiheit, diesem Mut, dieser Geschwindigkeit. Wir können Ideen und Lösungen ausprobieren, während andere – aus Gründen – lange überlegen müssen. Home-Office – für uns seit langem kein Traum, sondern Gewohnheit. Fester Bestandteil des Berufsalltags.
Nur: Wer hätte je gedacht, dass ein Nanometer großes Lebewesen, wenn man es überhaupt so nennen kann, eine Volkswirtschaft in die Knie und alle jene, die können, ins Home-Office zwingt? Dass die eigenen vier Wände und deren digitale Ausstattung überlebensnotwendig im Tagesgeschäft werden?
„Endlich erkennst Du meine wahre Bedeutung“, meldete sich Brad MacCloud zu Wort. Brad MacCloud vom Clan der MacCloud ist ein MacBook Pro. Genauer: mein MacBook Pro, mit dem ich seit seit geraumer Zeit in einer symbiotischen Beziehung lebe.
Home, Heaven and Hell
Die Wochen der Ausgangsbeschränkung hatten die Beziehung noch enger werden lassen.
„Beschwer Dich nicht.“, sagte ich. „Ich habe Dich stets wertschätzend behandelt.“
„Du sitzt jetzt sogar immer mit gewaschenen Händen an meiner Tastatur“, sagte Brad. „Kannst Du mit dem Brillenputztuch meinen Bildschirm abwischen? Die ‚Blinkis‘ bitte, die kitzeln so schön …“
Ich wollte gerade eines der nach Industriealkoholen riechenden Tücher aus der Einschweißverpackung nesteln, da erklangen im Stream der Vormittagsshow, die Brad für mich als Hintergrund gewählt hatte, Akkorde und Strophen, die ich lange, sehr lange, nicht mehr gehört hatte:
„So, so … you think you can tell
Heaven from Hell
Blue skies from pain…“
Mitten hinein ins Home-Office. Das sich mit einem Mal so groß wie eine Konzerthalle anfühlte, mindestens eine Turnhalle, die irgendwo da draußen stand, allein, in the middle of nowhere.
Kein Lied hatte jemals besser beschrieben, wie sich das Entfremden von einem guten Freund anfühlt, das Wissen um seinen Verlust, ohne ihn aufhalten zu können, bis schließlich nur das Alleinsein bleibt. Während Pink Floyds Akkorde aus längst vergangenen Zeiten an Herz und Hirn zupften, spürte ich, wie sehr ich sie vermisste.
Meine Kollegen.
„How I wish, how I wish you were here
We’re just two lost souls
Swimming in a fish bowl
Year after year…“
Hoffentlich dauerte der Ausnahmenzustand keine Jahre.
Oh, ja, ich vermisste sie, die Kollegen, deutlich und in nicht gekanntem Ausmaß. Qwertz, den schusseligen Kreativen; Lila Stiefelchen, die Zahlenjongleurin aus der Buchhaltung; unsere Volontäre Lang und Länger, von denen der eine lang und der andere immer länger arbeitete; sogar Dr. No vermisste ich, die Assistentin unseres EmmDees, dem sie immer Kaffee brachte und mir nicht.
Selbst der EmmDee fehlte mir, der in der Quarantäne froh war, dass seine Gewichtszunahme nicht exponentiell verlief und dass die aschblonde Kurzhaarfrisur noch etwas Zeit für den den bald nötigen Friseurbesuch ließ.
Masken, Matten und Motivation
Anfangs, als wir jeder Ansteckungsgefahr auswichen und uns komplett in unsere Home-Offices verlagerten, da war alles noch neu, ungewohnt, gerade die Transparenz.
Fast verschämt schalteten wir regelmäßig den Videostream aus, freuten uns über die gewonnene Bandbreite und begnügten uns, statt in eine Mindcraft-gepixelte Übertragung in unsere stillstehenden, smarten Profilotos auf Teams zu blicken.
Je länger aber der Büroaufenthalt in den eigenen vier Wänden voranschritt, desto mehr und desto häufiger liefen bei den Videokonferenzen auch die Kameras, rückten uns selbst, die Kunden, die strategischen Partner in die Augen der jeweiligen Betrachter.
Spätestens da war klar, dass die Welt nach Corona eine andere sein würde.
Trotz notwendiger Distanz kamen wir uns näher, als wir es uns jemals gedacht hätten. Wir sahen Wohnzimmer, Küchen, Hobbykeller und Dachkammern, wir blickten in Schlafzimmer, Kinderzimmer, ja sogar über den Rand von Badewannen.
Der Inhalt von Regalen verriet viel über den Literaturgeschmack der Konferenzteilnehmer oder über ihre Ordnungslust beim Sammeln bunter Leitzordner. Von den Decken schaukelten schwedische, toskanische oder japanische Lampen. Während Sandkasteneimer große Teetassen dampften, trollten sich Katzen unwillig von den Tastaturen. Manchmal hechelte Herrchen oder Frauchen mehr als der Hund, mit dem er bzw. sie gerade vom Joggen zurückkam.
Was noch mehr als der Einblick ins Private verband: Dass offensichtlich an allen Enden der Leitungen jenseits der zu bearbeitenden Projekte an gemeinsamen Zielen gearbeitet wurde.
Prallvolle Einkaufstüten stapelten sich auf Küchenzeilen, warteten darauf, dass sie zu den Senioren von nebenan gebracht werden sollte. Videostative und Yogamatten verkündeten, dass bald schon die nächste kostenlose Stunde schlagen würde, um Kolleginnen und Kollegen bei mentaler Stärke und körperlicher Fitness zu halten. Nähmaschinen verharrten im Ruhezustand; sicher, dass die nächste Nachtschicht kommen würde, um Gesichtsmasken zu nähen. Und nie, nie mehr, würde künftig irgendjemand „Mute Dich mal“ einfordern, wenn im Hintergrund Kinderlachen oder Geschrei zu hören war. Allseits verständnisvolles Zunicken zeugten von großem Respekt im Anblick der Doppelbelastung.
Ja, ich vermisste meine Kollegen. Ich hätte Ihnen gerne ins Gesicht gesagt, ohne hunderte von Glasfaserkilometern zwischen uns, wie sehr ich ihr Engagement und ihr Durchhaltevermögen bewunderte.
„Und das von dir, Buddy. Du wirst weich“, sagte Brad MacCloud und riss mich aus meinen Gedanken. „Die Krise verändert dich.“
„Kann sein“, sagte ich. „Es wird anders sein, für mich und für jeden. Irgendetwas zwischen Horx und Harari.“
„Sorry, bevor wir jetzt diskutieren“, unterbrach mich Brad, „Du musst in Dein nächstes Teammeeting.“
„Ok. Play it again, Sam.“
„Ich heiße Brad. Brad MacCloud vom …“
„Mach einfach. Nachher gibt es eine Brillenputztuch-Massage.“
Während sich pünktlich – auch das war vor Corona anders – ein Teams-Fenster nach dem anderen öffnete, einer nach dem anderen seine Kamera einschaltete, der Bandbreite zum Trotz, während wir uns zuwinkten, lächelten, mit unseren Sinnspruchtassen zuprosteten, während all dessen erklangen Pink Floyds Gitarren in epischer Breite und David Gilmores Stimme in stockwerkfüllender Lautstärke:
„How I wish, how I wish you were here …“
Oh ja. Ich vermisse Euch.
Diese Folge widmet Buddy Müller all jenen Kolleginnen und Kollegen, die im Home-Office alles geben, um ihre Agentur, ihre Selbständigkeit, ihr Unternehmen, ihre Familie am Laufen zu halten.
Und all jenen, von denen er sich in dem irren Jahr 2020 verabschieden musste.
Was sind Ihre Erfahrungen mit dem Daheimbleiben, dem Durcharbeiten und dem Durchhalten? Gerne per Mail direkt ins Home-Office an Buddy Müller unter buddy_mueller@gmx.net
Der erste Ruf nach den Vermissten hallte noch auf Profilwerkstatt.de wider.
Da habe ich es ja besser: Ich vermisse die schlechten Kollegen nicht 🙂
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