#folge17 #Grussverdruss

Ob Fauststoß oder Ellbogenkick, selbst während der Pandemie gehörte ein Gruß zum guten Ton. In E-Mails dagegen entfällt schon mal die angemessene Begrüßung. Noch schlimmer sind: GROSSBUCHSTABEN. Was Buddy Müller aufregt.

Leider haben sich manche Distanzbegrüßungen während der Pandemie nicht durchgesetzt.

Früher hätte ich geschrien. Laut, nicht lange, aber ich hätte geschrien. Früher, als Jungspund, als ich entdeckte, dass ich für das kreative Aneinanderreihen von Wörtern sogar bezahlt werde, das Herz voll Hoffnung, das Hirn voller Ideen, alles zusammengehalten von großen Ansprüchen – da hätte mir eine Mail wie jene, die ich gerade öffnete, einen Laut des Unmuts entlockt, der noch am anderen Ende des Großraumbüros zu hören gewesen wäre.

Zu meiner Überraschung schrieb mir mein Lieblingskunde, der weltweit führende Hersteller von Horizontalspülbohrmaschinen. Beziehungsweise der neue Projektmanager, der auf das erste gemeinsame Projekt mit dem Kunden nach einer kurzen Zwangspause – oder sollte ich Abenteuer sagen? –gesetzt worden war.

Einlauf per E-Mail

Heute bin ich im Agenturgeschäft angekommen, mit den Jahren gereift. Ich habe gelernt, spontane Reaktionen zu kanalisieren, meine Pulsfrequenz zu beruhigen und meinen Adrenalinpegel zu kontrollieren, wenn mich Mails erreichten, deren Absender offensichtlich „Netiquette“ für eine neue Schokoladenmarke hielt.

Ich bleibe ruhig. Ich versuche es zumindest.

So auch diesmal.

„Buddy“, musste ich als allererstes Wort in der an mich gerichteten E-Mail lesen, „Buddy, das ist MIST!!!“

Kaum zu glauben!!!

Denn keine 36 Stunden war das Prosecco beseelte, virtuelle Anstoßen her, auf die geglückte Content-Campaign zur Grundbohrungslegung des Schildburgmassiv-Basistunnels, da musste ich mir diese Anrede gefallen lassen!!!

Eine Anrede, die jegliche Höflichkeit missen ließ. Von einer konstruktiv vorgebrachten Kritik mal ganz abgesehen.

Sollte vielleicht der Weinbrause-Übermut gedämpft werden, um die partnerschaftliche Beziehung wieder auf die Kunde-Dienstleister-Realität zurückzustufen? Sollte mir hier ein verbaler Einlauf verpasst werden?

Der Anlass war eine Lappalie: eine nicht eingehaltene, interne Kommunikationshierarchie. Belanglos, folgenlos und obendrein nicht der Fehler unserer Agentur, meiner schon gar nicht – aber die Auswirkungen schienen so gewaltig, dass mein Ansprechpartner auf eine Anrede verzichtete.

Und „MIST“ hinterherschob.

In GROSSBUCHSTABEN.

„Brad“, sagte ich zu meinem MacBook Pro hilfe- und trostsuchend. „Brad, anschreien lasse ich mich von niemandem.“

„Nicht einmal von deinem Boss“, antwortete Brad MacCloud vom Clan der MacClouds. Um gleich die nächste Spitze zu setzen, dass er natürlich nicht meine Frau meine, sondern unseren geschätzten Managing Director, den EmmDee.

Hallo erstmal

„Sei doch froh“, sagte mein stilsicheres MacBook Pro, „dass der Kunde nicht grüßt. Der meldet sich doch eh nur mit ‚Hallo‘!“

Ich wertete das als Versuch einer Beruhigung.

Natürlich, entgegnete ich, sei ich kein Freund des nichtförmlichen Grußes. Aber nicht, weil „Hallo“ ein Grußbastard sei. Das Alt- oder Mittelhochdeutsche müssen für dessen Herkunft ebenso geradestehen wie das Hebräische und das Französische. Unklar ist, ob es etwa nur der abgekürzte Zuruf an den Fährmann ist, „Hol über“, der sich daraufhin mächtig in die Seile legt.

Für einen Hungerlohn.

„Dann passt es doch zu euch Agenturmenschen“, sagte Brad MacCloud.

Nein, „Hallo“ ist für mich untrennbar mit „Hallooo erstmal“ verbunden, dem in quälend langsamer Sprechweise ein – zugegeben meist witziges – Kabarett zu folgen pflegte.

„Daran erinnern sich nur die Älteren“, sagte Brad. „Was wir hier erleben, ist Realsatire. Passt also auch.“

Mir war nicht nach Diskutieren. Es gibt so viele Grußmöglichkeiten, dass nichts das Fehlen einer Anrede – oder den Einsatz des Allerwelt-Hallos – rechtfertigt. Etwa „Sehr geehrter Herr Müller“, formell, mit respektvoller Distanz, aus der heraus sich dem Gegenüber sowohl freundliches Wohlwollen wie unmissverständliches Missfallen ausdrücken ließe.

Oder, vertrauter, ein „Lieber Herr Müller“, in dem noch Lob und Prosecco von der Feier mitschwangen, einem Stückchen Zucker gleich, mit dem sich die bittere Medizin der aktuellen Kritik hätte schlucken lassen können.

Zu nah und doch zu fern

In der Corona-Krise klagten viele meiner Kollegen über Kontaktlosigkeit – auch ich. Mehr noch aber klage ich darüber, dass mit den physischen Kontakten offensichtlich auch die Kontrolle über das Grüßen an sich verloren gegangen ist. Wir hier, in der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands, pflegen mittlerweile eine kaum gekannte Artenvielfalt, ein Biotop an seltenen wie häufigen Grußformeln.

Natürlich gibt es Standards, Grußwirbeln gleich, bilden sie doch das Rückgrat unserer eigenen Netiquette. Es gibt das „Hi“, das „Hey“, auch das „Hallo“ (siehe oben) und dessen britische Variante „Hello“ (deren Inzidenz stark am Wachsen ist).

Von nicht allen geliebt, ist das „Liebe/Lieber“, dem einen ist’s zu fern und der anderen zu nah. Der Plural, „Ihr Lieben“, findet häufiger Anklang, zumindest beim Grüßenden, der mit einem Ausweichen ins Englische („Dear all“) entweder der deutschen Grußformel ihre Jovialität nehmen oder seine internationale Parkettsicherheit demonstrieren möchte.

Das rückübersetzte „Liebe Alle“ indes ist einerseits grammatikalisch falsch, da „alle“ ein Adjektiv ist und immer klein geschrieben werden muss. „Liebe alle zu Grüßenden“ wäre ebenso umständlich wie korrekt. Andererseits, sollte eine Frau namens „Alle“ angesprochen werden, so hätte sich der Absender geirrt.

Eine Frau Alle haben wir hier nicht.

Der rechte Gruß zur rechten Zeit

Natürlich gibt es das trockene „Guten Tag“ und das „Guten Morgen“ – beides eindeutige Hinweise darauf, dass der Absender seine Konzentration mindestens so hochhält, dass er weiß, in welcher Tageszeitzone er gerade seine Mails abschickt.

Meistens.

Es kann schon mal vorkommen, wie unlängst bei unseren Volontären Lang und Länger, dass sie weit über 11.45 Uhr hinaus grüßten, mit ihrem „Guten Morgen!“. Was Rückschlüsse auf am Vorabend geleistete Mehrarbeit oder auch auf einen extrem nachtaktiven Lebenswandel zuließ.

Altväterliches Grüßen wie „Werter Herr Müller“ dagegen wird sofort abgestraft – mein Lieblingsteamlead Qwertz konterte einmal, als „werter“ gegrüßt, wer denn der Werter sei und ob er auch so leide? Ihm, dem Kreativen, war dabei gleich, dass er das „h“ gestrichen hatte. Um des Gags willen, wie er betonte.

Dann schließlich das saloppe „Servus“, das nicht ausbleibt, um Nähe zu Land und Leuten zu zeigen, wenn man an den Münchner Standort schreibt. „Ich bin dein Diener“, heißt es übersetzt und wird daher von keinem Münchner Gegrüßten als anbiedernd empfunden – vielmehr als angemessen.

Eindringlich gewarnt sei hingegen vor der Verwendung des süddeutschen, hauptsächlich bayerischen „Grüß dich Gott“ in der Schriftsprache, dessen Verhunzung zu „Griaß di“ von Nichtmünchnern nie, nicht, nimmer richtig geschrieben werden kann. Auch nicht zur Wiesnzeit. Und nie, nicht, nimmer kann es als Zeichen gewertet werden, dass Absender und Adressat, Nichtmünchner und Münchner auf ein- und derselben Grüßhierarchiestufe stehen. Denn der Münchner hält es dann eher mit einem „Servus“ und dem „Tschau“ – nicht zuletzt, um damit seiner barocken, angeblich italienisch beeinflussten Lebensfreude einen Grußausdruck zu verleihen.

Den tödlichen Fehler, mich auf unbekanntes Grußterrain zu begeben, beging ich im Nachgang zur anredelosen Versalien-Mail meines Lieblingskunden.

„Moin, moin“, schrieb ich am nächsten Tag meinem – aus dem hohen Norden stammenden – Ansprechpartner beim weltmarktführenden Anbieter von Horizontalspülbohrmaschinen zurück.

Denn eine Antwort-Mail auf die GROSSBUCHSTABEN am gleichen Tag noch, ohne noch einmal darüber zu schlafen, hätte unser Verhältnis nachhaltig belastet. Mit „Moin, moin!“ wähnte ich mich auf der sicheren Seite, denn es kommt von „angenehm, gut, schön“ aus dem Plattdeutschen – und sollte dem neuen Kollegen auf der Kundenseite eine gewisse Konzilianz meinerseits vermitteln.

Gut, vielleicht hätte ich meinem „Moin, moin“ keine zwei Bildschirmseiten lange Replik hinterher schieben sollen.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

„Moin, Herr Müller“, kam es zurück in meinen Posteingang, „einmal Moin reicht völlig.“ Alles andere sei Gelaber. Und in unserer Branche hieße es doch: liefern, nicht labern.

Brad sagte: „Passt doch.“

Und dann zerriss doch mein Aufschrei die Stille.


Buddy Müller blättert zurzeit am liebsten in Adolph Freiherr Knigges „Vom Umgang mit Menschen“. Das 1788 erstmals erschienene Werk wird heute fälschlicherweise als Benimmratgeber verstanden.

Tatsächlich ist es eine soziologische Abhandlung, ganz im Zeichen der Aufklärung entstanden. Sie propagiert ein verständnisvolles Miteinander der Menschen. Es geht um Respekt, Taktgefühl und Höflichkeit.

Was unserer Zeit auch guttun würde.


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Veröffentlicht von Buddy Müller

Senior Project Supervisor bei der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands.

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5 Kommentare

  1. HALLO! Werther Buddy, Du hast so recht – wo sind wir hin gekommen? Danke für den Einblick in Deinen Gemütszustand, und damit: Guten Morgen! Und falls wir uns heute nicht mehr sehen, guten Tag, guten Abend und gute Nacht!

    Gefällt 1 Person

    1. Erinnerst Du Dich eventuell an Maria und Margot Hellwig? Als kleines Kind würde ich damit traktiert. Hängen geblieben ist – außer meinem Abscheu vor volkstümelnder Musik – ein Werk, das den Titel „Servus, Grüezi und Hallo!“ trug. Die haben unseren Grußverdruss vorweggenommen und mit guter Laune niedergesungen!

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  2. „Jepp Alter, iss so – voll strange geworden the world..“
    Sätze wie diese erinnern mich daran, dass ich – obwohl nur mit mittlerem Bildungsabschluß und grade mal der Note ausreichend in Deutsch (was im aktuellen Bildungssystem wohl eine Note 1 mit Sternchen wäre) – mich weigere Rechtschreibverschlimmbesserungen und Verdenglisierung so ohne weiteres zu akzeptieren.
    Denn ich habe eine abenteuerliche – ja gradezu unheilschwangere These: verroht die Sprache, verroht auch der Mensch, der Sie benutzt – oder auch umgekehrt.
    Nicht ohne Grund haben tausende Generationen der Menschheit sich bemüht aus Grunzen eine Sprache zu entwickeln – so was konnte ganz hilfreich sein, wenn ein Neandertaler ein Mammut erlegen wollte und während er sich an das Opfer heranschlich, ein ebenfalls hungriger Säbelzahntiger sich wiederum an diesen auf sein Ziel fixierten Jäger heranschlich.
    Grunzende Affenlaute des Kumpels, der ihn eigentlich auf die Gefahr hinweisen wollten, konnten leicht fehl interpretiert werden. So könnte ein aufgeregtes „Uh Uh.. Ah Ah..“ bedeuten: „geh lieber näher ran, du Trottel wirfst sonst wieder vorbei“, oder „pass auf! Tritt nicht in die Mammutscheis.. zu spät!“ – oder auch „meine Mithöhlenbewohnerin hat größere Titten wie Deine!“. Man sieht also schon, dass es dringend notwendig war Wörter zu erfinden, konnten die doch den Unterschied zwischen einem abgerissenem Körperteil, einem Fuß voller Kacke oder der Buchung für einen Termin beim plastischen Höhlendoktor zwecks Aufpolsterung gewisser Körperparien der Mithöhlenbewohnerin sein.
    Und die Generation Z versucht nun aus purer Bosheit (oder Dummheit?!) dies alles wieder zu zerstören..
    Dazu gehört auch das fehlen von Anreden – klar, sowas gibt’s ja bei den sozialen Medien nicht – da ist ja jeder dein Bro und selbst wildfremde Menschen werden geduzt.
    Tatsächlich hatte ich mal im Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de (das ich nach relativ kurzer Zeit wegen Blödheit der Mitnebenanner wieder verließ) einen jungen Mann, der einem anderen Hilfesuchendem bei seiner schriftlichen Bewerbung helfen wollte (weil er das für seine Mudda auch voll gut gemacht hat). Der Einsatz des jungen Mannes war bemerkenswert, doch der Text war erst beim zweiten Mal lesen verständlich. Ein Rechtschreibfehler reihte sich an den nächsten – es war eine Strafe den Text zu lesen und verstehen zu wollen.
    Meine Kritik, dass eine Bewerbung normalerweise in korrekter Rechtschreibung verfasst sein sollte konterte er mit dem Hinweis, dass er nur auf nebenan.de so schreiben würde. Im wirklichen Berufsleben würde er völlig fehlerfrei schreiben. Atze Schröder würde wohl jetzt sagen: „ja nee.. iss klar..“- ich will jemandem bei einer Bewerbung helfen und oute mich als der im Nachbarschaftsnetzwerk als der am wenigsten dafür geeignete, weil ich keine 3 Wörter fehlerfrei tippen kann – aber im echten Leben bin ich der Germanistik-Professor der Herzen! Klingt für mich voll logisch! NICHT!
    Es ist schon eine Form des guten Tons und Höflichkeit dem Empfänger gegenüber, seine Texte so zu schreiben, dass sie „wohlgefällig“ (das ist so ein schönes Wort – wollte ich schon immer mal benutzen 😉 ) sind. Das heisst, ich schreibe verständlich und rechtschreibkonform, dazu vermeide ich Gossenbegriffe. Und selbstverständlich lese ich es noch mal vor dem senden Korrektur!
    Aber Höflichkeit und 2021 – das passt irgendwie nicht zusammen…
    Bleib gesund..
    CU
    Dr. Nerd

    Gefällt 1 Person

    1. Ich greife mal nur Deine Erfahrungen mit nebenan.de heraus: Ich habe mich schlapp gelacht, so sehr, dass ich beinahe nicht mehr schreiben konnte. „Im wirklichen Leben schreibe ich rechtschreibfehlerfrei.“ Klar. Auch die Kommas sitzen richtig. Klar. Du hast völlig recht: Einen Satz in korrekter Grammatik, Rechtschrift und Zeichensetzung zu verfassen, ist eine Frage des Respekts gegenüber dem- oder derjenigen, der oder die diesen Text liest. Deswegen ist das World Wide Web auch kein rechtschreibfreier Raum; was im „wirklichen Leben“ gilt, gilt auch hier.
      Und wenn wir den großen Bogen spannen wollen, dann trifft das selbstverständlich auch und gerade auf Grußformen zu!

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