Jede Zeit hat ihre Begriffe. Schade, schade nur, wenn sie falsch verwendet werden.

Wer ein Business-Pokerface machen kann, ist für Videocalls bestens gerüstet. Das geht so: mit unbewegter Miene Kunden und Kollegen bei ihren Aussagen folgen, zwischendurch intelligent nicken und gelegentlich ein „Das sehe ich genauso!“ oder ein „Mmmmh.“ brummen.
„Darin bist Du Meister“, lobte mich Brad MacCloud, mein MacBook und digitaler Weggefährte trotz aller innerer Widerstände.
Meine Gedanken schweiften ab, während Brad auf seinem Bildschirm Fenster an Fenster reihte. Die Marketingverantwortlichen eines unseres wichtigsten Kunden, des weltmarktführendsten Wankelexzenterbiegemaschinenherstellers Deutschlands, lauschten meinem Lieblingsteamlead Qwertz bei seiner Präsentation eines neuen Content-Marketing-Ansatzes.
„Ich muss mich sputen“, sagte Qwertz aus dem Lautsprecher.
„Mmmmh“, sagte ich.
„Dann aber flott“, sagte Brad, mehr zu Qwertz als zu mir, was egal war, da ohnehin nur ich Brad hören konnte.
Voll toll!
Jede Zeit hat ihre eigenen Worte, dachte ich. Manche überlebten, manche nicht, manche veränderten ihre Bedeutung.
Ich fragte mich, was wohl das Corona-Wort werden würde und ob es Bestand hätte, eines, mit dem wir uns sofort erinnern würden, ja, Mensch, damals, als wir mit Masken herumliefen und Angst vor Echsenmenschen hatten …
„Toll“ etwa stand zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges und der Schreckensherrschaft der Pest für töricht und dumm, auch für verwirrt und verrückt.
Heute war es einfach „großartig!“
„Das ist ja voll toll“, tönte eine der Marketingverantwortlichen aus meinem Lautsprecher.
„Das sehe ich genauso!“, pflichtete ich ihr bei. Und war gedanklich schon wieder weg.
„Sprache? Sprache finde ich geil“, sagte Brad MacCloud.
„Mmmmh“, sagte ich und nickte intelligent.
Zwei Fliegen, eine Klappe
Mit „geil“ traf Brad mitten ins Schwarze. Wie „toll“ hatte es seine erste Hochphase, als Söldner und Pestbakterien Europa in Angst und Schrecken versetzten. Doch vom ursprünglichen „der Fleischeslust verfallen“ blieb nichts übrig. Allenfalls geht „geil“ heute als ein derbes, noch nicht ganz salonfähiges Synonym zu „toll“ durch.
Hängt vom Salon ab.
Ganz anders das harmlose „knorke“, das erst 1916 auftauchte. Zu Zeiten der Spanischen Grippe diente es dazu, berlinernd große Bewunderung auszudrücken.
Tucholsky hielt „knorke“ 1924 schon für veraltet. Es überlebte die Seuche nicht.
Wahrscheinlich, weil es zu harmlos war. Im Unterschied zur Seuche.
„Ähhhh“, meldete sich Qwertz zögernd aus meinem Lautsprecher. „Ich will ja nicht der Showstopper sein … aber ich müsste zügig in ein Anschlussmeeting.“
„Mmmmh“, wollte ich brummen.
Aber: Zack! Ich hatte mein persönliches Corona-Wort.
Den „Showstopper“.
Dieses Wort schien sich mit der Rasanz des Virus zu verbreiten. Mit ähnlicher Aggressivität verdrängte es zusehends das bisher in Meetings geläufige „Ich habe einen harten Anschlag“.
Wobei ja nicht der Sprechende selbst hart anschlägt, sondern er höflich zum Ausdruck bringen möchte, dass er in einen folgenden Termin wechseln muss.
„Oder dass er keine Lust mehr hat, noch eine Minute länger in dem Meeting zu bleiben“, ätzte Brad McCloud.
Mit dem „Showstopper“ versuchte ein Meetingteilnehmer zweierlei: Sich originell zu entschuldigen und sich zu verdrücken.
„So ein Spielverderber“, sagte Brad.
„Das wäre ein ‚party pooper‘“, sagte ich.
Acht Augenpaare starrten mich von meinem Bildschirm an. Ich wedelte eine Entschuldigung und schaltete mich stumm.
Natürlich stoppte der „Showstopper“ eine Show.
Allerdings, ganz klassisch, am Broadway.
Zumindest war das so in den Zeiten, als man noch Theater besuchen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich ungeschützt einen lebensgefährdenden Virus zu holen.
Denn ein „Showstopper“ ist ein Stück aus einem Musical, ein Lied, das mitreißt, das das Publikum spontan von den Stühlen holt und zu frenetischem Beifall animiert. Minutenlanges Klatschen war Pflicht (eine weitere Parallele zur aktuellen Pandemie). Erst danach wurde das Musical regiegetreu fortgesetzt. Der Showstopper wurde nicht selten an jeder Straßenecke gepfiffen – ein Gassenhauer, ein Schlager, ein Hit.
Wunsch und Hoffnung
Brad seufzte: „Wenn Qwertz wenigstens Ahnung von Projektmanagement und IT hätte …“
„Er ist ein Kreativer“, entschuldigte ich meinen Lieblingsteamlead.
„… dann könnte er wissen, dass ITler und Projektmanager den „Showstopper“ auch verwenden“, fuhr Brad fort. Dies würde allerdings von Sarkasmus nur so triefen, denn ein „Showstopper“ würde die Show tatsächlich zum Stillstand bringen: Wesentliche Teile eines Projekts müssten neu definiert, neu geplant und neu begonnen werden.
Sarkasmus? Kommt in einer Agentur nicht vor.
Nie. Niemals. Nicht.
Meinem Lieblingsteamlead Qwertz wünsche ich in jedem Fall von ganzem Herzen, einmal in seinem Leben ein echter Showstopper zu sein: Mit Standing Ovations aus einem Kreativmeeting verabschiedet zu werden, gesegnet mit Ideen, die minutenlang gefeiert werden, die sich als bahnbrechend für die gesamte Branche erweisen.
Was nicht ist, kann ja noch werden.
Vielleicht fängt er erstmal beim richtigen Gebrauch der Begriffe an.
Meinen Applaus hätte er.
Haben auch Sie auch spezielle Wort-Favoriten, vor, während oder für die Zeit nach Corona? Nutzen Sie Redewendungen, die nicht mehr ihre ursprüngliche Bedeutung haben? Buddy Müller sammelt weiter – und freut sich auf Ihren Input in den Kommentaren oder direkt an buddy_mueller@gmx.net
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