#folge35 #LauterlauteLeute

Schallwellen sind ständig präsent, gerade auf Dienstreisen. Mal ungewollt, mal gesucht, aber selten nur sind sie reine Begleiterscheinung. Buddy Müller verlangt es nach Ruhe und bekommt schließlich die volle Dröhnung unter seinesgleichen.

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Nina Hagen hat sich geirrt. Nicht New York City ist die heißeste Stadt. Sondern Köln. Vor allem, wenn man ein Hotelzimmer hat. Denn Köln ist eine Messe-Musical-Marathon-Tagungs-Touristen-Stadt, und wenn alles zusammenkommt, die Veranstaltungen und die Bustouristen, dann muss noch nicht mal der gewöhnungsbedürftige Karneval sein, um sich selbst über das kleinste und höchst überteuerte Plätzchen der heimisch-rheinischen Hotellerie zu freuen.

Da saß ich nun, an einem winzigen Frühstückstisch, nur wenige Quadratzentimeter größer als mein Hotelzimmer mehrere Stockwerke darüber, und freute mich auf eine stille Tasse Kaffee. Sogar Brad MacCloud vom Clan der MacClouds, mein treues MacBook Pro, hatte ich oben gelassen. Sehnte ich mich doch nach Ruhe, um mich auf meinen bevorstehenden Branchentreff vorzubereiten –

Er ist wieder da

„Köln ist kuhl. Kannste glauben“, tönte eine Stimme schräg über mir.

Sie gehörte zu einer lindgrünen Hoodie-Jacke, unter der sich ein zeltgroßes Hawaiihemd spannte, dessen Farbmuster einen Menschen mit Geschmack auf den raschen Einbruch der Dunkelheit hoffen ließen.

Speziell zu früher Morgenstunde.

„Is‘ kein Zufall, was?“, fragte das gewaltige Hawaiihemd, auf dem ein nicht weniger gewaltiger Kopf thronte. Zwischen nicht flächendeckend bewachsenen Backen und Kinn vermutete ich einen Hals, dessen Hauptaufgabe gerade war, die Muscheln eines Kopfhörers auseinanderzudrücken.

Ich sparte mir eine Antwort.

Es war einfach zu früh für einen Agenturmenschen wie mich.

Ich wollte nur meine Ruhe. Keinen Austausch.

Der mit meinem Gegenüber ohnehin ein sehr einseitiger sein würde – ich erinnerte mich leider nur zu gut, wo und wann ich dem aufgequollenen Quälgeist schon einmal begegnet war.

„Is kein Zufall“, bestätigte sich das Hawaii-Hemd und wuchtete seine mehr als dreistellige Kilozahl auf den Stuhl mir gegenüber, nicht ohne mir vorher seinen Ellenbogen zum Wiedersehensgruß in die Schulter gestoßen zu haben.

„Freuste dich? Lange nicht gesehen. Biste auch zur Messe hier?“

Ich quälte mir ein Lächeln auf die Lippen.

Eine Minute Lächeln soll glücklich machen.

Das hätte ich verdient, nicht nur im Anblick des selbstsicheren Störenfrieds. Schon meine Anfahrt zum weltweit größten Branchentreffen Deutschlands, zu dem alle weltweit führendsten Content-Marketing-Agenturen Deutschlands zusammenkamen – allein schon die Anfahrt war, als hätte ich eine kontinuierliche Kakophonie statt einer zügigen Zugfahrt gebucht.

Kaffee genießen oder gurgeln

Das schnarchende Frauchen mir gegenüber war nur der Anfang gewesen. Von dem Moment an, als der ICE aus dem Münchner Hauptbahnhof raus- und unter der Hackerbrücke durchrollte, versuchte sie ihren ebenfalls schnarchenden Hund zu übertönen.

Vergeblich.

Zwischen Pasing und Augsburg leerte mir schräg gegenüber ein Hipster nicht einen einzigen, sondern eine komplette Batterie an Bechern von Kaffee, den er schluckweise zwischen seinen Schneide- und Backenzähnen hin und her zog, mal in die linke, mal in die rechte Wange drückte und schließlich mit einem Zungenschnalzen hinabfahren ließ, als wäre es ein 1967er Château Pétrus und keine 2023er Hochdurchsatzfilterplörre der Deutschen Bahn.

„Grgglllchchhhh“, ließ sich das Hawaiihemd vernehmen.

Auf meinen fragenden Blick hin setzte es nach: „Grggllggllgllgrgllllchchhhhh.“

Ich wertete das als audiovisuellen Stoß mit dem Ellbogen, denn ich saß zu weit weg, als dass er mich physisch hätte erreichen können.

Das Hawaiihemd trank seinen Kaffee nicht, es gurgelte damit, schickte ihn schließlich ähnlich lautstark hinunter wie mein hipper Hipster im Zug.

„Kannste schlucken“, stellte das Hawaii-Hemd zufrieden fest.

Ich kam nicht dazu, meinem Widerwillen Ausdruck zu verleihen, denn mehrfaches Telefonklingeln lenkte mich ab. Ein lautes Spiel elektronischer Schalmeien erklang quer durch den Frühstücksraum.

Zwei berufsjugendliche Manager, graues Haar, leicht gegelt und gelegt, weiße Hemden, leicht spannend, weiße Sneaker, leicht quiekend, und Uhren so schwer, dass sie sich kaum zuwinken konnten, als sie per Anruf festgestellt hatten, auf welchem Tisch der jeweils andere seine Eier mit Würstchen und Bohnen abgestellt hatte.

Sie unterschieden sich wenig von jenen Führungskräften, die meiner Fahrt nach Köln eine unendliche Zahl an Klingeltönen beschert hatten. Vertreten waren die Top-100 der USA, sämtliche Klassikradios Europas und die Schlagerparade aus Deutschland.

Wobei: Helene Fischer hat instrumental ihren Reiz, weil ihre Stimme fehlt.

Je lauter, um so nichtiger

Also liefen weiße, gespannte Hemden mit grauen Haaren und großformatigen High-Tech-Handys am Ohr den Zuggang auf und ab, auf der Suche nach einem Fleckchen, das sie meist vor den WC-Türen fanden, um in Ruhe zu telefonieren. Dabei galt unumstößlich die Gleichung jeglicher Managerkommunikation: Je lauter der Herr spricht, um so wichtiger glaubt er sich, um so nichtiger ist das Problem.

Managerinnen sind da viel subtiler. Da sich Laufen für sie nicht schickt, zumindest nicht im dunklen Etuikleid, telefonieren sie lieber am Platz, mit Handys in Lederhüllen und schlanken weißen Stöpseln im Ohr.

So auch heute.

Thematisch waren sie breiter aufgestellt als ihre männlichen Pendants: Ab Ulm füllten Geschichten über Beckenbodengymnastik, Bewerberbeurteilungen und bereits beschlossene Bereichsumbildungen den Wagon. Da Frauen generell multitaskingfähig sind und die Reaktion des Telefonpartners nur von geringem Interesse ist, tippten sie gleichzeitig in ihre Notebooks und iPads, begleitet vom unermüdlichen Tack-Tack-Tack wohlgeformter Fingernägel.

Als Agenturmensch muss ich ein Freund der regen Kommunikation sein.

Aber muss diese unbedingt im Ruhebereich des ICE stattfinden?

Logistisch unschlagbar nah

Das Hawaiihemd an meinem Frühstückstisch hatte sich längst seinen eigenen Ruhebereich geschaffen.

Der Kopfhörer war vom kurzen Hals den Schädel hochgewandert; die Muscheln ließen nun die Ohren zur Gänze verschwinden.

„Musste tragen“, sagte das Hawaiihemd mit der überlauten Stimme eines Ertaubten. „Noisereduction“, lärmte es über den Tisch hinweg.

Ich nickte stumm.

Das Hawaiihemd hätte mich ohnehin nicht gehört.

Wie sehr hätte ich so einen High-Tech-Low-Noise-Gerät auf meiner Bahnfahrt zu schätzen gewusst. Stuttgart, Mannheim, Frankfurt, Köln, ohne Unterlass war Stimmung mit lauten Stimmen und kräftigem Klingeln im Psssstt!-Abschnitt meines ICE.

Nur um dann, nach der Ankunft in meinem Kölner Domizil, auch keine Ruhe in der Nacht zu finden.

Die mir zugewiesenen Quadratzentimeter, offensichtlich die letzten in der Stadt verfügbaren, waren trocken und sauber, und logistisch unschlagbar günstig in unmittelbarer Nähe zum Aufzug gelegen. Der allerdings die ganze Nacht über nicht stillstand und sich ein rhythmisches Wettsurren mit der nichtabschaltbaren Klimaanlage lieferte. Beide Errungenschaften modernster Hotelbaukunst – der vollautomatische vertikale Personentransport und die kühl kalkulierte Klima- und Kältetechnik – forderten bis zum Morgengrauen meine ungeteilte Aufmerksamkeit ein.

Die ich nun, endlich, einer den ermatteten Geist stärkenden Tasse Kaffee widmen wollte.

Doch meine Apple-Watch hinderte mich am Festhalten der Kaffeetasse: Sie rüttelte an meinem Handgelenk, ließ meinen Unterarm vibrieren und erinnerte mich lautstark und unnachgiebig daran, dass es höchste Zeit fürs Aufbrechen war.

Der Kongress der Kongresse

„Kannste nicht bleiben?“, fragte das Hawaiihemd. In seiner – lauten – Stimme schwang ein Hauch von Wehmut mit.

„Weiste“, dröhnte er, „ich kann mich mit wenigen Menschen so gut unterhalten wie mit dir.“

Fast tat er mir leid.

Unsere Ellbogen berührten sich in leichtem Stoß zum Abschied.

Dann musste ich los, ich wurde erwartet, auf dem weltweit größten Treffen der weltweit führendsten Content-Marketing-Agenturen Deutschlands, für volle zwei Tage ein heiliger Hort des Austauschs unter Meinesgleichen, ein Geben und Nehmen, von Wissen, von Einblicken, aber auch von Gerüchten, die die Würze im oft mühseligen Alltag von uns Agenturmenschen bildeten.

So betrat ich wenig später die Kongresshalle durch walhallisch hohe Tore, wischte mir den restlichen Schlaf aus den Augen, schüttelte mir die Glieder munter, richtete mich auf und ging zunächst immer dem Kaffeeduft nach.

Vereinzelt glaubte ich Gesichter – und Klingeltöne – von meiner Anreise gestern wiederzuerkennen.

Egal.

Das Stimmengewirr nahm Schritt für Schritt zu, dann das Schulterklopfen, schließlich auch das Umarmen, das große Hallo. Das Wiedersehen und die Freude darüber wollten kein Ende nehmen – war es doch für viele von uns das erste Mal im Postcoronicum, dass wir uns Auge in Auge, Arm in Arm gegenüberstanden.

Ein majestätischer Gong, dem Kongress der Kongresse mehr als angemessen, trieb uns schließlich in die Main-Stage (den Älteren noch geläufig als „Großer Konferenzsaal“). Dort legten uns alsbald wagnerianische Fanfaren die Ohren an und drückten uns mit einem Dezibelpegel knapp unterhalb der Schmerzgrenze in die Bestuhlung.

Dimensionenfüllende Klänge zwischen Walkürenritt und Götterdämmerung kündigten bahnbrechendste Vorträge und richtungsweisendste Workshops an, verhießen hitzigste Bühnengefechte und erhellendste Erfolgsgeschichten. Und ließen schon zum Start des Tages erahnen, dass Wichtigeres als das Rheingold auf uns wartete und die Nacht von einer alles in den Schatten stellenden Awardverleihung gekrönt werden würde.

Bei der einige von uns, viele gar, den weltweit bedeutendsten Branchenaward Deutschlands in 53 Kategorien in Empfang nehmen würden dürfen.

Unterkategorien nicht mitgezählt.

Da saß ich also, eingewickelt in einen X-Large-Lärmteppich, und hatte, wie hunderte um mich herum, einen Ort gefunden, an dem wir, ohne zu stören, in Ruhe laut sein konnten.

So sind wir: lauter laute Leute.

Wobei ich mich insgeheim doch auf die Rückfahrt freute. Denn die hatte ich wieder im Ruheabteil gebucht.


„Wenn ein Deutscher auf Reisen geht, packt er einen Koffer voll Lärm“, urteilte einst der Schweizer Aphoristiker Walter Fürst.

Was der Kurzwitzkünstler wohl über die Reiserlebnisse des Bloggers Dr. Nerd gesagt hätte? Äußerst lesenswert ist seine Pentalogie zu einer privaten Reise nach Ungarn. Zum Pennen blieb ihm keine Zeit.


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Veröffentlicht von Buddy Müller

Senior Project Supervisor bei der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands.

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2 Kommentare

  1. Hallo Buddy! Und Grüße gehen auch raus an deinen Sidekick Brad – auch wenn er diesmal nicht mal eine kleine Sprechrolle innehatte..
    Zuallererst möchte ich mich aber ganz herzlich für deine Verlinkung bedanken! Ich beuge mein Haupt vor der Ehre!
    Als nächstes freue ich mich für dich, dass Du die Freundschaft mit dem farbenfroh gekleidetem Mensch mit Vorliebe für den Thomas Magnun Lookalike Contest vertiefen konntest! Man hat so wenig echte Freunde im Leben – grade im Haifisch-Becken des Agentur-Alltags.. Du wirst es ja vermutlich selbst wissen..
    Ja, das was Du da satirisch beschreibst ist leider im realen Leben traurige Realität. Das eingekerkert sein, während des Coronikums hat häufig zum Verlust der guten Kinderstube geführt (gut, bei den meisten war die wohl auch schon vorher nicht wirklich da).
    Ist ja klar, zuhause musste man sich zusammenreissen, weil sonst bei Verfehlungen wie falsch einsortiertes Geschirr in der Spülmaschine oder der nicht herunter gebrachte Müll, Frau mit Sexentzug und 3 Wochen Übernachtung auf der Strafcouch drohte – vielleicht blockiert die FDP deshalb den Gesetzentwurf zum Thema Vergewaltigung in der Ehe? Vielleicht sind die aber auch einfach nur kacke – man weiss es nicht.. Aber ich habe eine Therorie diesbezüglich..
    Doch wollen wir uns nicht über verschüttete (oder eben nicht verschüttete) Körperflüssigkeiten den Kopf zerbrechen – mir kommt es so vor, als wären jetzt – sozusagen in „Freiheit“ – alle Hemmungen abgefallen. Wie sagte schon der Österreicher Grantschern am 8. September auf seinem Mastodon-Account: „die 5 am schwierigsten auszusprechenden Worte der deutschen Sprache:

    – Amphibrachys
    – Desoxybironukleinsäure
    – Bitte
    – Danke
    – Entschuldigung“

    Leider hat er damit Recht und trifft den Kern. Jeder hält sich für so wichtig, dass er es nicht mehr für nötig hält sich an die Regeln der Gemeinschaft zu halten. Die ganzen Covid-Leugner haben es ja auch nicht gemacht – und sind bis auf wenige ganz harte Wortführer ja auch straffrei ausgegangen.
    Damals konnte eine Infektion den Tod bedeuten und das war den verwirrten Geistern schon schnuppe – da kann man doch als wichtiger berufstätiger und steuern zahlender Mensch auf Rücksichtnahme bei solchen Dingen wie telefonieren nicht im Traum denken. Dass sich Menschen nicht mehr an Regeln halten, wenn der Gesetzgeber die nicht durchsetzt – wen wundert es? Fast war dieses Verhalten mit Ansage zu erwarten.

    Und was ich von diesen Preisverleihungen halte? Es gibt nichts alberneres! Punkt! Ich hoffe, Du warst gezwungen daran teilzunehmen – freiwillig tut man sich doch derlei Blödsinn nicht an, oder? Dazu passt dann aber auch die Mukke von Wagner – es gibt nicht viel, was noch düsterer klingt, latent unter der Oberfläche schlummernde Depressionen weckt und den Wunsch sich selbst das Leben zu nehmen übermächtig werden lässt. Oder auch das Leben anderer..
    Dass es Lobhudeleien für selbst die überflüssigste Leistung seit Menschengedenken gibt, damit auch wirklich jeder, der zu der Konferenz fährt einen Preis und eine Urkunde erhält (natürlich ungerahmt, denn ein güldener Rahmen hätte das Budget gesprengt), um sein (Arbeits-) Leben zu rechtfertigen (und einen Grund hat im nächsten Jahr wiederzukommen – denn der Rubel muss ja für den Veranstalter rollen), ist so Linkedindische Selbstbeweihräucherung, dass es weh tut. Und je mehr Preise verteilt werden, umso größer ist die Inflation des Krönchens, dass man dir aufsetzt. Dazu sieht ein Krönchen albern aus. – vor allem wenn Du es während der Rückfahrt im Zug stolz trägst..
    Ich denke aber, dass Du bestimmt in der Rubrik bester Blog aller Zeiten den ersten Preis und einen Pokal, so groß wie eine italienische Siebträgermaschine gewonnen hast. Und den zweiten und dritten Platz gleich mit!!
    Das war heute mal wieder ein etwas längeres Gedankenschnipselchen zu deinem wie immer tollen Text.
    Bleib gesund mein Bester!

    Wir lesen uns..

    P.

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    1. Lieber Dr. Nerd,
      gern geschehen (fürs Verlinken) und Dankeschön (für Deine Lobpreisungen). Laudationes durfte ich bei Awards für unsere Agenturleistungen in der Tat schon mehrfach entgegennehmen – die Begleitmusik schwankte zusätzlich zu Wagner zwischen Miami Vice, Star Wars und Tribute to Panem (um auch der jüngeren Generation ihren Tribut zu zollen). Besagte Awardverleihungen waren meist sogar kurzweilig und gefolgt von Partys inkl. Dancefloor bis die Sonne aufging. Dem gar nicht so selten anwesenden Gesellschaftsforscher boten sich überdies zahlreiche Möglichkeiten zum ergiebigen Studieren der Anbahnung kurzweiliger und meist kurzfristiger gleich- und überwiegend gemischtgeschlechtlicher Beziehungen.
      Wie auch immer, was tatsächlich fehlt in meinem Pokalschrank ist der Bembel für den „Besten Blog aller Zeiten“ – Du und ich, wir sollten diesen Preis anregen, wo auch immer, und dann bin ich sicher, dass Du mich auf die Plätze verweisen würdest. Zu Recht.
      Take care
      Dein Buddy

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