In jedem Unternehmen hat der Strategietag große Tradition. Dem Tagesgeschäft entrückte Führungskräfte legen dort den Kurs kommender Monate fest. Buddy Müller erlebt diesmal eine Überraschung.

Heute war es also wieder mal soweit. Dass heute etwas besonderes passierte, dass etwas präsentiert, verkündet, kommuniziert werden sollte, das lag in der Luft. Selbst getrennt durch tausende Kilometer Glasfaserkabel und verschanzt hinter den Bildschirmen unserer Home-Office-Arbeitsplätze war die Nervosität spürbar, die alle Mitarbeitenden unserer Agentur, der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands, erfasst hatte.
Heute war nämlich der Tag nach dem Strategietag.
Traditionsgemäß wird an diesem Tag immer die Belegschaft zusammengetrommelt, damit diese richtungsweisende Beschlüsse des „Inner Circles“ entgegennehmen konnte, des inneren Führungskreises, bestehend aus Aufsichtsrat, Vorstand und den Geschäftsführern mehrerer Standorte.
Das hatte sich auch in anderthalb Jahren Pandemie nicht geändert. Wir waren pünktlich, zugeschaltet via Teams. Die großen Bosse und natürlich der EmmDee waren zu spät – wie üblich.
Wetten auf Diversity
Was es nur noch spannender machte. In der Gerüchteküche unserer Agentur waren alle Herde auf Höchststufe in Betrieb. Die Spekulationstöpfe kochten über – selbst mein Notebook, sonst ein kühler Rechner, wurde davon erfasst.
„Vielleicht genehmigt der EmmDee eine neue Serverin“, sagte Brad MacCloud hoffnungsfroh. „Oder eine ganze Serverinnen-Farm. Das würde völlig neue Potenziale eröffnen …“
„Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen“, bremste ich Brad.
„Ah!“, sagte Brad, „Vergil!“
„Nein“, sagte ich. „‚Asterix als Legionär‘, Seite 17.“
Auch ein Klassiker.
So wie es ein Klassiker war, nach jedem Strategietag neue Zielbranchen zu verkünden. Es herrschte unter meinen Kolleginnen und Kollegen Einigkeit, dass es heute wieder Branchen sein würden, von denen wir absolut keine Ahnung hatten.
Ein neues Organigramm würde auch wieder dazugehören – todsicher würden die Mitarbeitenden gemäß der neuen Zielbranchen gruppiert werden.
„Das entspräche der höchstmöglichen Konzentration an Ahnungslosigkeit“, sagte Brad.
Selbstverständlich würden zu einer neuen Branchenausrichtung auch ein neues Narrativ und ein neuer Claim gehören. Es liefen Wetten mit hohen Einsätzen, dass die Begriffe „Purpose“, „Diversity“, „Storytelling“ und „Newsroom“ darin vorkommen würden.
Mehr gewinnen konnte, wer zusätzlich auf Kombinationen mit Beiwörtern setzte. Etwa „Corporate“ (für Wetteinsteiger, weil naheliegend), „emotional“ (brachte schon mehr, weil Gefühle im Geschäftsleben eigentlich nichts zu suchen haben), oder „transformational“ (ein echter Hingucker für eine Repositionierung; höchste Gewinnquote).
Weinprobe und Härtetest
Das Businessbeben, das heute unweigerlich seine Klimax erreichen würde, hatte – wie immer – vor fünf Wochen in einem Epizentrum begonnen: dem Büro unseres Bosses. Dass dies im Coronicum überwiegend nach Hause verlegt worden war, hatte keinerlei Bremswirkung auf das, was sich mit hoher Geschwindigkeit in konzentrischen Kreisen verbreitete.
In den Jahren zuvor erwischte es als erste immer Dr. No, die Assistentin des EmmDee. Deren „Nein, ich werde mich nicht um die Unterbringung der Anreisenden kümmern“ wurde vom EmmDee damit quittiert, dass sie sich zusätzlich um das Rahmenprogramm für den Vorabend zu kümmern hatte.
Nicht selten wurde dieser Vorabend zu einer echten Bewährungsprobe, aufgrund der häufig damit einhergehenden Weinprobe. Bei der aber nicht der Wein, sondern das Durchhaltevermögen der Führungskräfte auf die Probe gestellt wurde.
Ein Härtetest also.
Am Folgetag – dem eigentlichen Strategietag – offenbarte sich dann die Kondition der Unternehmenslenker, wenn sie versuchten, ihre Präsentationen zu halten.
In Corona-Zeiten kürzte Dr. No ab: Sie organisierte eine virtuelle Weinverkostung und schickte kistenweise Rebensaft durch die Welt – den unser EmmDee ausführlich vorher getestet hatte.
Blendgranaten und Business-Facts
Nüchterner fielen die Aufgaben aus, die an Qwertz, meinen Lieblings-Teamlead und an mich als Senior Project Supervisor gingen.
„Welchen Trend stellen wir denn diesmal vor?“, fragte uns der EmmDee im Chat.
Eine berechtigte Frage, denn 360-Grad-Offensive, Kirchturm-Strategie und Vorgarten-Taktik hatten wir schon. Für die anstehenden Powerpointschlachten mussten gute Geschütze in Stellung gebracht werden.
Neue Geschütze.
Also fügten Qwertz und ich aktuelle Studiensammlungen, Awardauswertungen und Konkurrenzanalysen zusammen – wir bauten eine ganze Batterie an Zahlen, Grafiken und deutsch-englischen Buzzwords.
Bessere Blendgranaten gab es nicht.
Während wir Begriffe wie „Content Amplification”, „Performance Optimization“, „Micro Moments“ oder „Behavioral Targeting“ statistisch über die Powerpoint verteilten, traf unsere Praktikantin aus der Controlling-Abteilung ein weitaus härteres Schicksal: Der EmmDee beauftragte Lila Stiefelchen mit dem Zusammenstellen der Geschäftszahlen.
Ihr Glück war, dass immerhin sie den Unterschied zwischen Umsatz und Rendite, zwischen Liquidität und Liquiplanung beherrschte.
Der EmmDee dagegen hielt das alles für gut gemeinte Ratschläge, die er je nach Erfordernissen in der Argumentation variieren durfte. Entsprachen die Zahlen nicht den allgemeinen Erwartungen, nun, er hatte sie ja auch nicht zusammengestellt.
Powwow in der Pandemie
Fünf Wochen Vorbereitung, 35 Tage minutiöser Planung (die Wochenenden musste man immer miteinrechnen) – eine bewegte Zeit des kreativen und organisatorischen Hin und Hers. Die Geschäftsführer in unserem Agenturnetzwerk und ihre besten Führungskräfte waren in dieser Zeit für Kunden und Neugeschäft nicht zu erreichen.
„Man muss sich auch mal auf das wirklich Wichtige konzentrieren“, sagte Brad MacCloud.
Die immens wichtige Vorarbeit gipfelte schließlich in acht-, neun-, zehnstündigen Gesprächen, sonst hinter verschlossenen Türen, die sich nur wenigen Auserwählten öffneten. Das Pandemie-Powwow fand indes in virtuellen Räumen statt, wo die Argumente sicher nicht weniger scharf durch den Äther flogen und hart aufschlugen.
Und dann war es auch schon wieder vorbei.
Der Tag der Tage, der Tag nach dem Strategietag, war gekommen.
Wir waren pünktlich. Die Bosse und der EmmDee waren zu spät. Wie üblich.
Da – endlich! – erschien auf unseren Bildschirmen unser EmmDee, eingerahmt von Aufsichtsräten, Vorständen und den Geschäftsführerkollegen der anderen Standorte. Sie wirkten verknittert; die Augen rot, die Haut vom Riesling in Falten gelegt. Doch sie versuchten wacker, den Anschein aufrecht zu erhalten, dass vor allem das Strategieschmieden sie in diesen Zustand versetzt hatte.
Irgendetwas aber war heute anders, sie wirkten milder, ruhiger, gefasster. Vielleicht auch erleichtert, dass wir es bis hierher doch ganz gut durch die Pandemie geschafft hatten.
Der EmmDee begann zu sprechen, zuerst die üblichen Begrüßungs- und dann die eher seltenen Dankesworte.
Dann sagte er etwas, was er noch nie nach einem Strategietag gesagt hatte.
Er sagte: „Wir machen weiter wie bisher.“
Ich, Buddy Müller, seit zig Jahren Senior Project Supervisor in der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands, ich traute meinen Ohren nicht.
Nichts Neues? Keine Veränderung? Nicht zum scheinbaren Besseren? Kein Aufruf zu höheren Zielen? Keine neuen Zielbranchen, keine denglischen Wortneuschöpfungen, keine gedrechselten Leitmotive?
„Wenn das nichts Neues ist“, sagte Brad.
Dieses Jahr, betonte der EmmDee, würden keine Experimente gemacht. Mit der Gravitas, die dem alten Adenauer würdig gewesen wäre, betonte er das Fortführen des während Corona eingeschlagenen, erfolgreichen Wegs.
Über den Bildschirm flogen hunderte klatschender Hände, unser virtueller Applaus.
Respekt, dachte ich. Der Alte ließ alles beim Alten.
Zumindest bis zum nächsten Strategietag.
Buddy Müller hat Macchiavellis „Il Principe“ gelesen und auch Sun-Tsus „Die Kunst des Krieges“ intensiv studiert. Doch am meisten für das strategische Überleben in einem Unternehmen lernte er aus Asterix, Band 4: „Der Kampf der Häuptlinge“.
Hi Buddy (und natürlich gehen auch Grüße raus an Brad),
Jepp, da ist man von den Socken – man macht sich eine Heiden-Arbeit (darf man dieses Wort noch benutzen – I’m very unsure – könnte sich um eines der neuen Beleidigungswörter handeln), arbeitet Konzepte aus, erfindet das Rad neu, hat vielleicht sogar den Weg in ein Parallel-Universum gefunden in dem es nur eine 10 Stunden Arbeits-Woche gibt – in der eine Woche aber 30 Tage hat (was die durchschnittliche Tagesarbeitszeit darauf beschränkt einmal im Büro die Tür aufzumachen „Guten Morgen“ zu sagen und dann wieder zu verschwinden) – und dann will das keiner hören. That’s very fustrating, I suppose (Anglizismen müssen heutzutage einfach sein – ich WILL auch cool erscheinen)
Ist bei uns ähnlich. Am Anfang als ich bei meinem damaligen Arbeitgeber (einem bekannten aber vor kurzem aus dem DAX geflogenem Weltkonzern) anfing, versuchte ich Dinge zu verändern, brachte neue Ideen ein, wollte Arbeitsabläufe optimieren. Ja, ich kleines Dummerchen kam aus dem Umfeld von kleinen Betrieben, wo man darauf angewiesen ist, das Ohr am Markt zu haben und schnell reagieren zu können. Sehr schnell „nordeten“ (das darf man aber noch sagen – oder ist das auch schon cultural appropriation? Echt, diese Welt mit Ihren sprachlichen Fallstricken macht mich fertig!!) mich Kollegen und Vorgesetzte ein. Sowas sieht man gar nicht gern, wenn es Leute im Team gibt, die Arbeit SUCHEN. Ein Kollege brachte es auf den Punkt – und das war von da an meine Maxime: „Nicht DU musst Dir Arbeit suchen, sondern dein Vorgesetzter muss Dir Arbeit geben!“
Als ich das verstanden hatte – war vieles einfacher. Vor allem weil die Vorgesetzten auch keinen Bock hatten kreativ zu sein – geschweige denn zu arbeiten. Zurückblickend muss ich sagen, dass die Jahre in einem weltweit tätigem Konzern die entspannteste Arbeitszeit war, die ich in meinem 40 Jahren Berufsleben hatte. Wenn ich könnte, würde ich da glatt noch mal 10 Jahre Nichtstun im Home-Office dranhängen..
CU
Peter
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Lieber Peter,
manchmal dauert es etwas, bis mir Gedanken zufliegen. Nun ist mir ein Zitat zuggeflogen, von Henry Mintzberg, dem Übervater der Strategie: „Strategic Planning isn’t strategic thinking (…) Planning has always been about analysis (…) Strategic thinking, in contrast, is about sythesis. It involves intution and creativity.“
In diesem Spannungsfeld von strategischem Planen, Denken – und Handeln! – bewegen sich doch die Managing Directors, kurz: EmmDee, deutsch: Geschäftsführer. Deren Aufgabe ist die Geschäfte zu führen, sowohl das Geschäft in die Zukunft zu führen, als auch Geschäfte herbeizuführen. So viel zu „Dein Vorgesetzter muss Dir Arbeit geben“. Zumindest herbeiführen! Sonst geht die Gleichung nicht auf.
Liebe Grüße
Buddy
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