Zweck oder Absicht? Sinn oder Besinnung? Buddy Müller weiß nun: Corona bringt vieles an den Tag. Aber nicht den Purpose.

Wegen Corona ist es ruhiger geworden rund um den Purpose. Dabei ist Purpose ein großes Wort. Ein sehr großes Wort. Ein bedeutungsvolles, eines das weit trägt, umreißt Purpose doch, der landläufigen Meinung zufolge, den Sinn und Zweck, den Mitarbeitende persönlich und Unternehmen im Allgemeinen verfolgen.
Da Content Marketing eine Wunderwaffe ist, mit der sich ziemlich alle Probleme lösen lassen, ist es kein Wunder, dass Content-Marketing-Agenturen jeder Größenordnung sich nur allzu eifrig auf den Purpose stürzten, um ihn Unternehmen beizubringen.
Das ist nur gut ein Jahr her, damals im Präcoronicum.
Und nun? Funkstille.
Nicht mit Absicht
„Pörpohs hier, Pörpohs da“, näselte Brad MacCloud vom Clan der MacClouds, mein stets kritischer Rechenknecht. „Das haben die doch nur mit Absicht gemacht!“ Und lieferte gleich die korrekte Übersetzung ins Englische hinterher: „They did that only on purpose!“
Nein, entgegnete ich, nicht so sehr blanke Absicht habe dahintergesteckt. Sondern die ewige Jagd nach neuen Geschäftsfeldern.
So war es auch bei uns gewesen, der weltweit führendsten Content-Marketing-Agentur Deutschlands, als unser Boss, der EmmDee, einst in meinem Türrahmen stand und philosophierte, dass Content-Marketing-Agenturen besser als jede andere Agenturgattung dazu berufen seien, Unternehmen den Purpose zu vermitteln.
Content sei prädestiniert dafür, hatte er gerufen, sofern er ehrlich sei und authentisch: „Inhalte müssen Mut machen, Stellung beziehen, zeigen, wofür man steht!“
Das werde, so hatte er konsequent geschlussfolgert, von Kunden und Mitarbeitern mit nahezu ewiger Treue und Verbundenheit belohnt.
Mit seiner Purpose-Philosophie spannte unser EmmDee ungebremst den Bogen weiter vom Unternehmenszweck über das Bewältigen wirtschaftlicher Krisen hin zu weltumgreifenden Herausforderungen wie dem Klimawandel.
„Nachhaltigkeit“, hatte er gesagt, „Nachhaltigkeit und Wertschätzung. Und Diversity. Das ist immer gut. Gut für den Purpose.“
Ich, Buddy Müller, bin als Senior Project Supervisor mittlerweile erfahren genug, um zu wissen, wie ich mit Ideen-Eruptionen meines Bosses umgehen muss.
„Wow“, sagte ich, lächelte ein bisschen intelligent … und tat erstmal nichts.
Markt ohne Maske
Brad schien das Pausieren ebenfalls zu befürworten: „Das war doch nur Posing. Nicht Purpose.“
Typisch für uns sauerstoffwechselnde Lebensformen sei, so mein Laptop, den zum Glück nur ich reden hören konnte, dass wir immer zu viel wollten.
„Ihr macht immer gleich ein Riesenfass auf“, sagte er. Ein Fass, in das dann alles reingekippt würde, was in beliebig grober Näherung einen Zusammenhang habe. „Das ist Purporridge. Purpulp. Purpustekuchen…“
„Und?“, versuchte ich ihn zu bremsen.
„Und dann wundert ihr euch, warum euch das niemand abkauft.“
Womit er zielsicher wie immer seinen nicht vorhandenen Finger in eine noch nicht geschlossene Wunde legte.
Denn nur wenige Monate, nachdem der EmmDee in meinem Türrahmen gestanden hatte, zeigte der Markt sein unmaskiertes Gesicht.
Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern haben wiederkehrende Zyklen analysiert, in Differentialgleichungen gepfercht und vorhergesagt, dass es immer wieder Zeiten gibt, in denen schlechtes Wirtschaften und eine schlechte Wirtschaftslage zueinanderkommen. Gesellt sich dann noch Unvorhergesehenes – etwa eine Pandemie – hinzu, kann es sehr schnell eng werden.
Aller nach unserer Ansicht konkurrenzfähigen Angebote zum Trotz zeigten die Kunden nicht nur kein Interesse an unserer Purpose-Portfolioerweiterung, die ihnen den rechten Weg im Wirtschaftsleben und zu einer dauerhaften Bindung an uns hätte weisen sollen.
Nein.
Reihenweise kündigten sie auch noch ihre Projekte – aus wirtschaftlichen Zwängen.
Zwänge, die weiterzureichen der EmmDee sich selbst gezwungen sah, und zwar an die Mitarbeitenden. Zuerst mit dem Zwang zur Kurzarbeit, dann mit dem Zwang, zumindest bei Teilen der verbundenen Belegschaft, ihre Schaffenskraft wieder auf dem freien Arbeitsmarkt anzubieten.
Zwischen „Purpose sagen“ (in der Hoffnung, das Wort auch richtig zu betonen) und „Purpose leben“ öffnete sich bei unseren Kunden wie bei uns eine große Kluft. Und zeigte vor allem jenen Unternehmenszweck, den schon Reinhard Sprenger, Bücher schreibender Berater, in abgeklärter Nüchternheit auf den einen Punkt gebracht hatte: nämlich Geld zu verdienen.
Auch nicht allein des schnöden Mammons willen. Sondern um der Solidargemeinschaft, zu der sich Mitarbeitende meist zufällig zueinander finden, mindestens die Grundbedürfnisse zu ermöglichen.
„Satt, trocken, warm“, sagte Brad. „Ihr Menschen seid da echt einfach aufgebaut.“
„Ich habe gehört, Sprenger sei ein begnadeter Saxofon-Spieler“, versuchte ich abzulenken.
„Hätte er euch damit einmal nur den Marsch geblasen!“, sagte Brad.
Why? How? What the fuck?
Zumindest war ich heute mal froh im Home-Office zu sein.
So musste ich nicht mit ansehen, wie im verwaisten Konferenzraum die vergilbten Kärtchen von den Metaplanwänden rieselten, wie welkes Laub im leichten Wind, der durch die alle 15 min geöffneten Fenster strich.
Leise raschelten auch die großen Purpose-Poster, auf denen das einst kräftige Rot konzentrischer Kreise zu einem schwachen Rosa verblasste.
Simon Sineks Methode des Golden Circles setzte in der Pandemie Patina an.
„Find your reason why“, hatten wir, Sineks Methodik adaptierend, unsere Kunden auffordern wollen. Aber die Mannschaft des einzigen Kunden, der sich versuchsweise auf diese Entdeckungsreise eingelassen hatte, zerstritt sich heillos und laut fluchend schon im ersten Workshop. Und zwar über die Frage, ob man sich von außen nach innen arbeiten sollte, vom What (Was wir machen) über das How (Wie wir es machen) hin zum Why (Warum wir es machen). Oder eben umgekehrt.
Das Angebot für einen Nachfolgeworkshop, um diese grundlegende Frage abschließend zu klären, wurde schließlich vom Einkauf gestoppt. Womit die Frage, die zur zentralen Frage führen sollte, und wie man da hinkam, erst einmal ungestellt blieb.
Nun, eine Frage warf sie schon auf. Zumindest bei mir, die häufig wiederkehrende Frage nach der Sinnhaftigkeit meines Agenturlebens.
„Du kennst die Antwort“, sagte Brad und riss mich aus meiner Nachdenklichkeit.
„Hhhh?“, fragte ich.
„42“, sagte Brad. Sein Kameraauge glänzte tiefblau und geheimnisvoll.
„Natürlich“, sagte ich. „42.“
Die Frage aller Fragen
Wie hatte ich nur anderes vermuten können?
Ist diese formvollendete Zahl doch die Antwort eines Supercomputers nach einigen Millionen Jahren Rechenzeit auf eben die Frage aller Fragen.
Zumindest in der Romanreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“.
Vom ersten Lesen bis zum heutigen Tag an hat mir die sechsbändige Trilogie des Briten Douglas Adams ein tiefes Verständnis ermöglicht: von sprechenden Notebooks, dichtenden Raumschiffkommandanten (die Geschäftsmodelle generierenden Agenturchefs nicht unähnlich sind), von Kunden, Kollegen und von Telefondesinfizierern und Unternehmensberatern.
„Mit der Frage nach dem Purpose“, erklärte Brad, „ist es wie mit der Frage nach allem, nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.“
Es sei in höchstem Maße unwahrscheinlich, so Brad weiter, dass sich die Frage und die Antwort gleichzeitig in ein und demselben Universum aufhalten können. Weswegen ich mir künftig auch besser nie wieder die Frage nach dem Sinn meines Agenturlebens stellen sollte.
Das Chat-Fenster öffnete sich.
Der EmmDee postete mir, er habe eine neue Idee, eine bahnbrechende, eine unwiderstehliche, er plane, volle Power, einen Purpose-Push nach der Pandemie, denn die ersten Lockerungen würden zu unserem Erfolg als Lovebrand führ…
„Wow“, sagte ich, lächelte ein bisschen intelligent und … klickte ihn weg.
„Macht´s gut“, schrieb ich in meinen Abwesenheitsassistenten, „und danke für den Fisch.“
Die Wahrscheinlichkeit, dass Reinhard Sprenger, Simon Sinek und Douglas Adams ein weiteres Mal in einem Blogbeitrag gemeinsam auftauchen, liegt bei ca. eins zu 9.654.241.321.342.
Also ziemlich unwahrscheinlich.
Aufgrund eines Wurmlochs im Raum-Zeit-Kontinuum, das sich öffnete, als Sie begannen, diesen Blogbeitrag zu lesen, wird er in dem Paralleluniversum links von Ihnen in sozialen Kanälen zu einem Zeitpunkt geliked und geteilt, als diese Kanäle noch nicht einmal erfunden waren.
Der „PURPOSE“… genau so ein besch.. ähmm… – wie nenn ich es ohne dass es gleich „PIEEP“ aus dem Lautsprecher von Brad macht, wegen politischer Unkorrektheit? – Wort wie „MINDSET“. Liest man jetzt immer, sagen die neuen hippen Coaches, weil das Wort „Einstellung“ sich abgenutzt hat, sich nicht mehr verkauft – bzw. der Trainer, Coach, Sklaventreiber – nenne Sie wie Du willst uns Kunden, Trotteln, Unwissenden, Ungläubigen – nenne Sie wie Du willst, natürlich nichts Neues verkaufen kann. Die Quadratur des Kreises ist noch niemandem gelungen. Also werden alte abgehalfterte Lösungen etwas übergetüncht und ein cooler Anglizismus drüber geworfen. Und schon schaut’s wieder schick aus und wird wieder auf die Menschheit losgelassen, wie Micaele Schäfer nach der xten Brust-OP.
Diese Überflieger glauben, sie könnten damit die Kunden einseifen – wenn ich diese Worte höre sind die direkt raus aus dem Geschäft, weil ich weiß, dass die nichts bieten können, was ich nicht schon kenne.. Aber ich kann mich immer darüber amüsieren, wenn die ganz aufgeregt und mitreissend ihre Vorträge halten, einen voller Euphorie anschauen während Sie hyperaktiv vor dem Flipchart stehen.
CU
Peter
LikeGefällt 1 Person
Brad MacCloud sagt „Purpeep“ und freut sich über das Zitat.
Und sonst? Kräftige Worte, immer gut für Klarheit! Anglizismen darf man gerne vom schonenden und beschönigenden Mantel befreien – oftmals steht der, der sie benutzt, dann ebenso nackt da.
LikeGefällt 1 Person