Pakete sammeln? Produktiver sein? Zuhause arbeiten ermöglicht die perfekte Kombination. Chefs hingegen wollen die Kontrolle zurück. Und übersehen dabei: Manches wird nie mehr so sein, wie es vor der Pandemie war.

Wenn eine Pflicht zu Ende geht, dann ist das in der Regel eine Freude. Doch wir leben in irren Zeiten – Klima, Corona, Krieg, dann auch noch Kunden – so dass die mit einer Pflicht einhergehenden Regeln auch Verlässlichkeit bedeuten. Was Balsam auf die schwärenden Wunden von Agenturmenschen ist.
Beziehungsweise wäre.
Verlassen konnten wir uns bislang – meistens und im Umgang mit Corona – auf die Dreifaltigkeit aus MPK, RKI und unserem Arbeitgeber, letzterer in persona unserem EmmDee, dem Managing Director. Der sich ohne Wenn und Aber an die Regelungen hielt und damit an die Home-Office-Pflicht.
Solange sie galt.
Alternativlose Antworten
Nun hat unlängst unsere neue Regierung diese Regel fallengelassen. Neben einigem anderen, der Maskenpflicht etwa, dabei nicht der Logik oder der Wissenschaft, aber dem kleinsten Koalitionspartner aus nicht weiter nachvollziehbaren Gründen folgend.
Dem EmmDee schlug damit die Stunde und uns in gewissem Sinne auch. Zum „Agency Freedom Day“ trommelte er uns, seine Schutzbefohlenen, zusammen. Zu einem Treffen. In Präsenz. Und zur Vorstellung der von ihm persönlich in der Agentur initiierten Umfrage: „Willst Du zurück aus dem Home-Office?“
„Hat es euch wirklich nicht stutzig gemacht“, fragte mich Brad MacCloud vom Clan der MacCloud, mein scharfsinniges MacBook Pro, „dass es nur drei mögliche Antworten gab?“
Die Alternativen seien überschaubar gewesen, gab ich zu:
- Ja, ich will unbedingt zurück.
- Ja, ich kann meine Familie nicht mehr riechen.
- Nein, ich suche mir sowieso einen neuen Arbeitgeber.
„Aber mal ehrlich“, warb ich bei Brad um Nachsicht, „bei so vielen Umfragen im Netz kommt es doch auf die eine mehr oder weniger auch nicht mehr an.“
„Du wirst schon sehen, wo das hinführt“, sagte Brad.
Aufbruch ins Postcoronicum
Zunächst führte uns die Umfrage in unseren Meeting-Raum. Ich klappte Brad zu und packte ihn mir unter den Arm, damit er wenigstens zuhören konnte. Und harrte dann gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen, allesamt frisch und freiwillig maskiert und leicht fremdelnd, auf die Ansprache des EmmDee.
„Da freue ich mich jetzt schon nicht darauf“, nörgelte Brad an meiner Seite.
„Jetzt sei nicht so“, entgegnete ich. Es sei schließlich noch nicht lange her, da hatten sich alle nach einer Perspektive gesehnt. Und sei sie noch so weit entfernt gewesen. Eine Hoffnung auf die Zeit danach, auf das Postcoronicum. Nun sei die Zeit gekommen!
„Das denkst auch nur du“, sagte Brad MacCloud, „und der EmmDee.“ Ein „Agency Freedom Day“ beleidige ihn, Brad, geradezu, denn schon allein seine Rechenleistung genüge, um die kommenden Wellen an Virenvarianten und deren Ausbreitung vorherzusagen.
„Stadtteilgenau“, fügte er hinzu. Aber ihn frage ja keiner.
Ich vermisse euch alle!
So schnell würde ihn auch keiner fragen, denn unser EmmDee stand nun vor uns, in voller Größe, also eher zu kurz geraten, live und nicht mehr von seiner Monitorkamera auf das obere Drittel zurechtgestutzt.
„Schön“, sagte er, „dass ihr endlich alle mal wieder zur Arbeit gekommen seid.“
„Siehste, geht schon los“, meckerte Brad an meiner Seite.
Neben und hinter mir hörte ich verhaltene Proteste – etwa, dass man zu Hause viel mehr gearbeitet habe, obendrein produktiver, oder dass man viel pünktlicher und besser vorbereitet in Meetings gegangen wäre. Im Unterschied zum EmmDee selbst.
Auch bei ihm gehörte, wie zu jedem Boss, eine gewisse Schwerhörigkeit, sei es akut verursacht, wenn Sorgen und Nöte vorgetragen wurden, sei es dauerhaft, wenn Widersprüche auftauchten. Dem EmmDee fiel es also leicht, unbeirrt fortzufahren.
„Ich weiß ehrlich nicht, wie ich es allein schaffen konnte“, sagte er, „diesen Laden hier am Laufen zu halten.“
„Das wundert mich nicht“, kommentierte Brad. „Von uns weiß es ja auch keiner.“
Jedenfalls, so der EmmDee, er freue sich, dass alle zurück wollten und wedelte mit den Umfrageergebnissen. „Nordkoreanisch“, kommentierte er das Ergebnis.
Besser könne man die Vermissensfrage nicht beantworten. Auch er habe uns vermisst, in diesen zwei Jahren Abstand. Alle habe er vermisst, also fast alle, die meisten jedenfalls, zumindest jene, mit denen er zu tun hatte, und die ihn unermüdlich unterstützt hätten.
Er unterließ es, jemandem namentlich zu danken.
Mit der Rückkehr aus dem Home-Office, fuhr er fort, würden sicher auch gute, alte Traditionen wiederkehren. Während er seine leere Kaffeetasse schwenkte, schwärmte er von unserer Siebträgermaschine im Wert eines Kleinwagens und von jenen talentierten Kolleginnen und Kollegen, die früher für eine regelmäßige Geschmacksexplosion an seinem Gaumen sorgten.
Er schwenkte seine Tasse weiter.
Unser dienstbeflissener Volontär Länger wollte schon nach vorne drängen, doch sowohl Lang, der andere Volontär, als auch Dr. No, die prohibitiv veranlagte Assistentin des EmmDee hielten ihn zurück.
„Nein“, sagte Dr. No bestimmt.
„Manches bleibt Vergangenheit“, sekundierte Lang.
Kunde, Kinder, Küche
Die Tasse verschwand schließlich und der EmmDee teilte uns stolz mit, dass er beschlossen habe, den besonderen Leistungen der Kolleginnen und Kollegen während der Pandemie Rechnung zu tragen – mit Bitte um Verständnis: ohne Relevanz für Gehälter und Boni.
Etwa solle ein 3K-Zertifikat über die Multitasking-Fähigkeit („Kunde-Kinder-Küche“) geschaffen und in den jeweiligen Personalakten festgehalten werden.
„Das gilt ohne weiteren Nachweis für alle Mütter und Mütterinnen“, freute sich der EmmDee über seinen Einfallsreichtum.
„Meint der das ernst?“, fragte Brad an meiner Seite.
„Ich fürchte, er meint das ernst“, sagte ich. Wohl zu laut und zu wenig durch meine Maske gedämmt.
„Ja-ha, Müller“, rief der EmmDee, „das habe ich gehört! Das ist mein voller Ernst!“
Ich solle meine Energie nicht in Randbemerkungen vergeuden, sagte der EmmDee. Stattdessen könne ich froh sein, dass ich wie alle Kolleginnen und Kollegen, die im Home-Office nach dem Ausräumen von Keller oder Kleiderschrank umfangreiche eBay-Erfahrungen gesammelt hatten, eben diese Erfahrungen bei unseren nächsten Performance-Marketing–Projekten einbringen dürfe.
„À propos Performance“, sagte der EmmDee.
Damit auch die körperliche Leistung erhalten bliebe, müssen die Lauf- oder Trainings-Zeiten im Home-Office angemessen ersetzt werden. Er werde persönlich dafür sorgen, dass sämtliche Pitchunterlagen sowie die gesammelten Magazine, Bücher und Aktenordner aus der Zeit vor Corona sukzessive in den sechs Stockwerke tiefer liegenden Keller getragen würden. Damit der Nachschub nicht ausgehe, habe er überdies der gesamten Agenturgruppe angeboten, unseren Standort als Archiv zu nutzen.
„Die Anmeldung zur Schleppstunde erfolgt über unsere Intranet-App“, erklärte er. „Das solltet ihr von Eurem Fitness-Club gewohnt sein.“
„Die Stunde wird nie ausgebucht sein, jede Wette“, sagte Brad.
Hybride Heimat
Dass vor und hinter mir das Gemurmel immer vernehmlicher die Zeiten herbeiwünschte, in denen man den Gesprächspartner einfach stumm geschaltet hatte, nahm unser Boss zum Anlass, endlich zum Schluss kommen zu wollen.
Nicht ohne vorher auf die größte Erneuerung hingewiesen zu haben: „Ihr habt euch hybrides Arbeiten gewünscht. Ihr bekommt hybrides Arbeiten.“
In wenigen Tagen würden die ergonomischen Bürostühle ersetzt durch Möbelstücke, die uns in den Zeiten der Pandemie als Sitzmöbel viel vertrauter geworden sind: durch Schlafsofas.
„So könnt ihr Home-Office vom Büro aus machen“, sagte der EmmDee. Hybrider ging es doch gar nicht. Heimeliger auch nicht. Und bei Überstunden brauche man künftig einfach nur die Couch ausfahren.
Wobei es sich natürlich nie um Überstunden handlen würde, denn die müsse er anordnen. Also sei es allenfalls Mehrarbeit, vielleicht sogar durch mangelnde Organisation. Was man bei den nächsten Personalgesprächen einfach mal thematisieren müsste.
„Jetzt aber wünsche ich euch viel Spaß beim Wiedereinarbeiten!“, sagte der EmmDee und schlüpfte in einen kalbsledernen Golfhandschuh. Er habe jetzt noch einen unaufschiebbaren Geschäftstermin, endlich in Präsenz, und so störe er auch niemanden beim Wiederankommen in der Agentur.
Als die Flügeltür hinter ihm ins Schloss gefallen war, blinzelten wir uns alle ungläubig über die Maskenränder hinweg an.
Dr. No, Lang und Länger, auch Qwertz und Lila Stiefelchen trollten sich mit den anderen zurück an ihre Schreibtische.
Sie begannen ihre Taschen zu packen.
„Wartet!“, rief ich ihnen zu. „Gebt ihm acht Minuten.“
„Er braucht nur sechseinhalb bis zur Tiefgarage“, sagte Brad.
Dann wünschten wir uns alle einen schönen Tag und gingen dorthin zurück, wo es stets am schönsten sein soll, zumindest schöner als im Büro.
Nach Hause.
Ins Home-Office.
„Wie nötig ist’s, in der jetzigen Zeit ein angenehmes Zuhause zu haben.“ So schrieb es Johann Wolfgang von Goethe in seiner „Italienischen Reise“. Buddy Müller ist sicher, dass Goethe einer der ersten und vehementesten Verfechter des Home-Offices war.
Hi Buddy!
Wie heisst es doch so richtig: „zu Hause ist es am schönsten!“
Na gut, bei uns im Pott sagt man eher: „Hömma! Zu Hause iss an schönsten“ – was für Ortsfremde zu Irritationen bezüglich des Sinns sorgt. Grübelnde Gesichter, hochgezogene Augenbrauen und der fragende Blick „meint er ‚essen‘ oder ‚den Aufenthalt‘ und wieso benutzen alle aus dem Ruhrgebiet falsche Präpositionen und dieses seltsame ‚HÖMMA‘?“
Doch verlassen wir meine Heimat und gehen wir ins Home-Office zurück. Der Wirkungsraum des Angestellten in Zeiten des Coronicums.
Tatsächlich wurden wohl nie mehr Nachbarschaftsfreundschaften geschlossen als während der Zeit der Home-Office Pflicht. Die normalerweise gestressten Fahrer der Paketdienste luden ganze Strassenzüge bei mir ab. Unendlich viele Fahrer bedankten sich tränenreich, manche gaben mir sogar Trinkgeld, weil Sie nun auch endlich mal pünktlich Feierabend machen konnten. Mit vielen tauschte ich Telefonnummern und social Media Accountdaten aus.
Auch die Mitbewohner der Siedlung lernte ich nun näher kennen – erfuhr von jungen Müttern, wann Ihre Männer auf der Arbeit sind und wann die beste Zeit wäre Ihr das Paker persönlich vorbei zu bringen. Warum einige dabei so seltsam zwinkerten und kicherten weiß ich aber nicht..
Naja, vielleicht finde ich das noch raus..
So ich muss los – ich habe hier noch ein paar Pakete, die ich rumbringen muss – und nachher kommt schon der nächste Schwung. Hoffentlich kommt Timmy von UPS mit dem Sattelschlepper in meine Strasse.
Bleib gesund..
CU
P.
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Lieber Dr. Nerd,
ich dachte, die Osterfeiertage ließen mir etwas mehr Ruhe, um dir einen angemessenen Kommentar zu schreiben. Aber Pustekuchen, Eiersuchen. Letzteres war immerhin erfolgreich.
Ich freue mich immer wieder, wenn du mich in die Geheimnisse deines Dialekts einweist. Ich stelle ihn mir dann in meinem inneren Ohr als gesungen vor. Zumindest aus dem Süden heraus klingt alles, was ihr da tief im Westen sagt, viel melodischer, weil der Satz am Ende nach oben geht. Wie die Stimmung.
Ich finde es sehr löblich, wie du deiner Nächstenliebe Ausdruck verleihst und einerseits ein kameradschaftliches Verhältnis zu den Paketzustellern pflegst. Andererseits, wie du alles zu geben bereit bist, was die auch körperlich anspruchsvollen und anstrengenden Tätigkeiten dieser Zunft betrifft. Ich nehme dir nicht ab, dass dir das „Zwinker, Zwinker“ der Empfängerinnen völlig unbekannt ist. Du wirst es auch kaum mit den ersten Auswirkungen der Allergie-Saison verwechseln. Solltest du wider Erwarten von mir Unterstützung oder Rat und Tat brauchen, nun, du weißt ja wie du mich erreichen kannst. Aber sag’s nicht weiter.
Viele Grüße, dein Buddy
PS: Twitter ohne dich ist irgendwie leerer.
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Hi Buddy..
hier im Pott würde ich jetzt wohl sagen: „ach, Hömma Herzepümpsken, du fehlst mich ja auch..“ – ich habe tatsächlich mal kurz überlegt ob ich unter einem anderen Namen mal bei Twitter wieder für Unfug sorgen soll. Jetzt wo Elon, das Teil gekauft hat, wird ja alles besser. Oder nicht?.. Okay, man muss schon ziemlich durch den Wind sein, wenn man über 40 Milliarden für eine Hater-Community ausgibt. Naja, die Superreichen halt – die einen kaufen sich ’ne Yacht, oder ’nen Privat-Jet und die anderen einen Nachrichtendienst der bei über 280 Zeichen die Grätsche macht..
Ich dachte wirklich, ich wäre nach einiger Zeit der Abstinenz (Neudeutsch Detoxing) wieder für die ganzen Dumpfbacken auf Twitter mit einem gestähltem Nervenkostüm gewappnet – und dann habe ich zum Gegenbeweis so ein Schlüssel-Erlebniss wie heute, als ich mich mit jemandem, den ich eigentlich seit 40 Jahren kenne in der City getroffen habe um mal bei dem schönen Wetter einen Kaffee zu trinken. Und kaum ist der Kaffee serviert, erzählt er, dass der ukrainische Präsident Schuld an dem Krieg wäre, der seine jungen Soldaten opfert und endlich aufgeben soll und Putin gar nicht anders konnte, als die Ukraine anzugreifen um dem Westen zu zeigen, dass man das mit ihm nicht machen kann und er endlich Atombomben einsetzen soll. Da schmeckt Dir der Keks zum Kaffee nicht mehr, man bekommt saures aufstoßen und im Geiste hast Du die Nummer des Typen bereits aus deinem Notizbuch gelöscht..
Wäre ich Schwurbler würde ich vermuten, dass die Regierung Doofen-Pulver ins Trinkwasser mischt – da ich aber selber auch Wasser trinke würde das ja bei mir auch Spuren hinterlassen. Aber vielleicht gibt es Unterschiede bei den Auswirkungen oder bei der Inkubationszeit – jedenfalls merke ich, dass mich so ein Blödsinn echt anfrisst..
Doch es gibt auch gute Neuigkeiten: am 30.4. ist hier in der Westfalenhalle große Mayday-Party – Ich werde natürlich da sein! Du kommst doch sicher auch und bringst Brad mit, oder? Und dann machen wir DUFFTADUFFTADUFFTA!!!… 🙂
Bleib gesund und lass Dir keine A-Bombe auf den Detz knallen – ist schlecht für die Frisur..
CU
P.
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